Unser Lied für Liverpool – Eine Show mit Höhen und Tiefen

Was war das gestern bitte? Der ESC-Ultra in mir ist von so viel Qualität überwältigt, überrascht, sogar geschockt, aber der TV-Zuschauer in mir, sieht doch leider den ein oder anderen Fremdschäm-Moment.

Gestern wählte Deutschland in der Show „Unser Lied für Liverpool“ den Vertreter des diesjährigen ESC. Im Vorfeld präsentierten Alina Stiegler und Stefan Spiegel in der WarmUp-Show auf eurovsion.de und in der ARD Mediathek einige witzige und liebevoll gemachte Clips rund um den ESC. Auch die Interviews mit Gästen (d, m, w) wie Malik Harris und Barbara Schöneberger waren erfrischend leichtfüßig und unterhaltsam. Umso schöner ist es, dass die beiden dieses Jahr mehr Sendezeit bekommen und neben den beliebten Songchecks auch noch die Online-Show „Alles Eurovision“ präsentieren dürfen.

Alina und Stefan
Stefan Spiegel und Alina Stiegler vor der Show

Die gestrige Hauptshow startete dann mit einem ungewohnt unklamaukigem Opener. Eine urdeutsche Marschkapelle spielte unter Barbaras „Führung“ die in ESC-Kreisen so geliebte Eurovisionsfanfare. Ja, es war nicht Bierernst, aber nein, albern wie in den Vorjahren war es auch nicht. Und zum Glück zog sich diese Haltung dann durch die gesamte Show.

Barbara Schöneberger

Babsis Oh- und No-Momente

Bleiben wir bei Barbara, die gestern auch optisch dezenter und eleganter war, als in den Vorjahren. Ihre Interviews mit Florian Silbereisen, Riccardo Simonetti und Ilse DeLange waren zwar keine Meilensteine der TV Geschichte, aber einen Barbara Dex Award der Moderation hätte sie dieses Mal auch nicht verdient. In einigen Situationen konnte sie sogar beweisen, dass sie in spontanen Momenten witziger ist, als in geplanten und durchgetakteten Sequenzen. Immer wenn sie Dinge abspult, schwächelt Babsi. Das ist ihre Schwäche in ESC Formaten, die wenig Spielräume bieten. Immer wenn sie spontan rumblödelt, ist sie lustig, was wiederum ihre Stärke in Gameshows ist. Letzteres konnte sie gestern unter Beweis stellen, als sie Silbereisen einen Korb gab, nachdem dieser sich an sie anschmiegen wollte oder als sie mit Vaidotas (The Roop / ESC 2020 + 2021) bei der Punktevergabe flirtete. Das war witzig und charmant.

Aber Barbara lieferte auch den größten Fremdschäm-Moment des Abends, als sie die wundervolle Eurovision-Legende Katja Ebstein förmlich vor die Kamera zerrte, die privat zur Show kam. Natürlich war das nicht Barbaras Entscheidung und ebenso selbstverständlich kann eine Katja Ebstein niemals „privat“ in eine ESC Show gehen, ohne als Star gefeiert zu werden, aber diese Nötigung war unterm Strich trotzdem sehr unangenehm. Hier hätte eine kurze Absprache vor der Show den Live-Moment gerettet.

Katja Ebstein im Intrview

Egal, denn am Ende war es eine tolle Show, mit spannenden Acts und guten Songs. Eine Show, mit gewissen Längen, einigen Schwächen und dem ein oder anderen (Achtung Wortwitz) Stein, über den man stolperte. Aber gemessen an dem, was der deutsche ESC Fan in den letzten Jahren ertragen musste, war der gestrige Abend überwältigend gut.

So ist, neben den Hauptacts des Abends, der hohe ESC Bezug innerhalb der Punktesprecher (u.a. SuRie, Jamala und Gjons Tears) lobend zu erwähnen, aber auch die restlichen Gäste waren gut gewählt und konnten genauso den ESC Fan in mir überzeugen, wie den normalo TV-Zuschauer. Von ehemaligen Acts bis hin zu frühere Juroren tummelte sich da einige ESC-Expertise auf der Bühne

The BossHoss und Ilse DeLange
Ilse DeLange und Riccardo Simonetti

Ein ESC-Medley am Ende der Show, in dem sich die Künstler (d, m, w) des Abends noch einmal in einem anderen Licht präsentieren konnten, war eine großartige Idee und erfreute mich ebenso, wie beim belgischen Vorentscheid. Dennoch muss die leider recht billige Produktion des Playbacks erwähnt werden. Die Übergänge waren unsauber und teilweise zu lang. Klar hat man für eine solche Show keine ewig lange Vorbereitungszeit und die Proben sind recht eng getaktete, aber hier hätte man, aus der sonst so schönen Idee, trotzdem ein wenig mehr machen können. Allerdings konnten alle Acts bei ihren kurzen Auftritten strahlen.

Barbara Schöneberger und Florian Silbereisen eröffneten das Medley

Viel Licht und trotzdem Schatten

Die einzigen wirklichen Kritikpunkte, die meiner Meinung nach dringend zu beheben sind, beziehen sich auf das Voting- und Auswahlverfahren und auf die Sendezeit.

Das Auswahlverfahren, das im Vorfeld exklusiv über die fragwürdige App TikTok eine Wildcard vergab, finde ich äußerst schwierig. Eine Wildcard liefert einem Act immer eine mediale Sonderstellung, was ich als störend empfinde. Sich an TikTok zu binden empfnde ich jedoch als noch schlimmer. Hier bitte zumindest die Auswahl zukünftig auf alle großen Netzwerke erweitern.

Eine vorgeschaltete Online-Abstimmung, bei der zum Teil komplett andere Versionen bewertet werden, ist absoluter Mist. Durch das kurzfristige Ausscheiden eines Acts aus gesundheitlichen Gründe, verzerrte sich das Voting dann noch obendrein. Die Punkte für Frida Gold, die nicht auftreten konnten, wurden einfach herausgerechnet. Deren Fans verloren so aber ihr einmaliges Stimmrecht. Auch wurde bei einigen Acts leider deutlich, dass zwischen der Qualität einer Studioaufnahme und der Live-Version Welten liegen können. Was auch schon im letzten Jahr der größte Kritikpunkt daran war.

Ungünstig fand ich auch, dass die Jury-Wertungen verkündet wurden, während man noch anrufen konnte.

Wenn man das alles ebenso ändert, wie die späte Sendezeit, könnte man endlich einen angemessenen Vorentscheid etablieren.

Um diesen dann auch qualitativ hochwertiger werden zu lassen, sollte man dringend am Sound arbeiten. Dieser war erneut unsauber, Stimmen mal zu Laut und mal zu leise. Was mich zu dem wichtigsten Teil der Show bringt: Die Teilnehmer (d, m, w)

Visuell wow – Auditiv mau…

Eröffnet wurde der Wettbewerb durch Trong, der visuell endlich mal zeigte, wie ein deutscher Vorentscheid auszusehen hat. Großartige Tanzeinlagen, super Farb- und Lichteffekte und eine tolle Kameraführung. Den Effekt, bei dem verschiedene Bildausschnitte übereinandergelegt wurden, hätte ich zwar nicht gebraucht, aber dennoch war das Staging ein riesen Upgrade zu allem, was wir seit langem im deutschen Auswahlverfahren hatten, wäre da nicht noch die Tonspur gewesen. Stimmlich war Trong leider nicht so herausragend, wie optisch. Ich würde nicht von einem Totalausfall sprechen, wie es einige enttäuschte Fans in sozialen Netzwerken nannten, aber eine Glanzstunde seiner Karriere war es leider auch nicht.

René Miller brachte den besagten Stolperstein auf die Bühne, was dem Auftritt leider nicht geholfen hat. Alles war zu statisch, da er im wahrsten Sinne des Wortes an diesen Felsen gefesselt war. Und so ein Pappmaschee-Stein hilft beim ESC selten, wie wir 2018 beim russischen Beitrag eindrucksvoll feststellen durften. Leider war René stimmlich nicht auf dem Gipfel des Berges angekommen und ich verspreche euch, das war jetzt mein letzter Gag hierzu.

Dann folgte Anica Russo, die feengleich in einem wunderschönen Glitzerkleid durch Schilf wanderte und endlich zeigte, dass deutsche Acts auch singen können. Sie lieferte einen der besten Auftritte des Abends ab.

Lonely Spring, die Punk-Pop Band aus Bayern, hatten zwar ein eindrucksvolles Bühnenbild, welches aber auch zeitgleich ein Handicap für die Band darstellte. Sie brachten zig Schaufensterpuppen als schattenartige Skulpturen auf die Bühne, die die Band entsprechend des Liedtitels als Misfits (deut.: Außenseiter) aus der grauen Masse herausstachen ließen. Aber damit man die Gruppe noch optisch zwischen den Puppen einfangen konnte, musste man sie auf Podeste stellen, was wiederum zur Folge hatte, dass sie in ihrer Energie und Bewegungsfreiheit eingeschränkt waren. Während sie wie unglaublich sympathische ADHS-Frettchen vor und nach dem Auftritt über die Bühne fegten, waren sie hier förmlich lahmgelegt.

Will Chruch war der nächste Act, der beweisen konnte, dass wir starke Stimmen im Wettbewerb haben. Seine hohen Töne wirkten auf den ein oder anderen Zuschauer scheinbar unsauber oder anstrengend, so zumindest die Resonanz auf den sozialen Medien, aber dennoch machte er einen sehr guten Job, was auch völlig zu Recht mit hohen Jury-Punkten belohnt wurde. Da das Staging jedoch eher unscheinbar und das Genre zu nah an den letzten deutschen Beiträgen war, war das Publikumsergebnis dann erwartbar schlecht.

Unerwartet schlecht hingegen war der Auftritt von Patty Gurdy, die im Vorfeld als eine der Favoriten ins Rennen ging. Ihr Song hatte die größte ESC-Qualität und kam in europäischen Fankreisen auch am besten an. Live konnte sie dieser Favoritenrolle leider nicht gerecht werden. Sie wirkte extrem aufgeregt und hetzte dem Song stimmlich hinterher. Das kann sie deutlich besser, weshalb ich mich über eine erneute Teilnahme freuen würde, damit sie Europa zeigen kann, was sie wirklich draufhat.

Und um im Bild zu bleiben: Ikke Hüftgold war wiederum erwartbar schlecht. Was gar nicht beleidigend gemeint ist. Er hat geliefert, was man bestellt hat. Das niedrige Niveau, was Ballermann-Gejaule haben oft bewusst haben will, hat er 1zu1 auf die Bühne gebracht. Er klang genauso flach und billig, wie in der Studioversion, was dazu führte, dass man hier überrascht war, dass er Live so „gut“ ist. Ikkes Auftritt war Ballermann Deluxe. In Gold und mit einer eindrucksvollen Bühnenshow. Die von ihm mit Outfits ausgestatten Fans (Anm.: Er verschenkte via Instagram Ikke-Kostüme an Personen mit Eintrittskarten), taten ihr Übriges. Auch wenn ich seinen Auftritt und seine Teilnahme furchtbar fand, zeigte er den vielen Ballermann-Wannabes, wie Show funktioniert. Es ändert aber nichts daran, dass dieser Künstler mit mehr als fragwürdigen Texten sein Geld verdient, was ihn meiner Meinung nach schon vor der Show unwählbar machte. Rassismus und Sexismus sind nicht mit Humor und Kunstfreiheit zu decken.

Den Abschluss machte Lord of the Lost, die sehr gut anfingen, zwischenzeitlich aber auch leicht außer Atem wirkten, ein Aspekt den Chris im Vorfeld schon an sich selbst kritisierte. Er sagte, dass ihm die Atmung noch schwerfalle, da die Bühne in den vorgesehenen Atempausen in Pyro-Nebel gehüllt war. Auch ist der schlagereske Schunkelbeat des Glamrock-Songs, der den Sänger auch zum Wippen brachte und der teilweise schwache Text, der „Blood and glitter“ schwerfällig auf „sweet and bitter“ reimt ebenso wenig beeindruckend wie der insgesamt sehr repetitive Beitrag. Dieses Fazit klingt vielleicht hart, aber Lord of the Lost kann einfach so viel mehr als das, was wir im Mai in Liverpool sehen werden. Dennoch war die Wahl der Jungs aus Hamburg die beste Entscheidung, die wir gestern treffen konnten. Aus ESC-Perspektive heraus ist „Blood and Glitter“ das untypischste, was wir aus Deutschland ins Rennen schicken konnten und trotzdem ist es ein Genre, das hierzulande so populär ist.

Die einzige Alternative, die uns sicherlich auch gut vertreten hätte, war Anica, die aber meiner Meinung nach leider der Ikke-Angst zum Opfer fiel. Viele Fan-Herzen schlugen für sie, aber aus Angst, sie könne nicht gegen Ikke gewinnen, wählte man dann die persönliche Nr. 2 und gab so Lord of the Lost die Stimme, denen man von Anfang an als einzige eine Chance gegen den bekannten Ballermannsänger einräumte.

Schade für Anica, aber die Strategie ging letztendlich auf und zum Glück wurde so Lord of the Lost auch nicht durch die Jury zum Sieg gewählt, sondern eindeutig durch das Publikum.

Die Puntketabelle nach dem Juryvoting
Wertung ULfL
Das Endergebnis inkl. Publikumswertung (gelb hinterlegt)

Wie habt ihr den gestrigen Abend wahrgenommen? Was sagt ihr zum Ergebnis? Was waren eure High- und Lowlights? Lasst es mich wissen, hier in den Kommentaren oder wie immer über die sozialen Medien.

 

Highlights der Show in der Bildergalerie:

8 Antworten auf „Unser Lied für Liverpool – Eine Show mit Höhen und Tiefen“

  1. Du kannst meine Gedanken lesen. Am schlimmsten fand ich wie die augenscheinlich unwillige Katja Ebstein vor die Kamera genötigt wurde. Positiv zu vermerken, Barbara hat die Kandidaten weitestgehend in Ruhe gelassen und mit Florian auf der Couch gequatscht. Beim Medley hätte einmal singen von ihr auch gereicht. Ilse mit den Boss Hoss fand ich gut. Ricardo war wie stehts bemüht seine Botschaft zu vertreten. Fein. Der Kniefall vor und das Feiern mit allen Teilnehmern zum Abschluss von LotL war für mich Sahnehäubchen mit Kirsche.

    1. Beim Medley habe ich die Vermutung, dass Barbara den Part übernommen hatte, der für Frida Gold gedacht war. Daher hat sie vermutlich mit Anica nochmal gesungen. Aber sicher weiß ich das nicht. Dass die Kandidaten in Ruhe gelassen wurden fand ich auch gut, aber dadurch waren sie natürlich weniger im Fokus. Also Trong, der ja sehr früh dran war, war dann auch fix vergessen irgendwie. Ein Mittelweg wäre wünschenswert.

          1. Frida Gold hätten im Publikumsvoting noch mehr abgeloost als Anica Russo oder Rene Miller, die mit 8 Punkten wohl nur knapp über 2% der Stimmen bekommen haben. Eine anstrengende Melodie mit einem pseudo-intellektuellen Text – da hilft auch der relativ hohe Bekanntheitsgrad nicht.

          2. Frida Gold hätte sich da sicherlich eingereiht, viele Jurypunkte und vergleichsweise wenig Publikumspunkte, da stimme ich dir zu. Wobei ich glaube, dass sie (auch wegen der Sprache) besser abgeschnitten hätten als 8 Prozent.

  2. Treffende Bewertung zu den einzelnen Songs. Auch ich war überrascht, dass die Live-Performance im Vergleich zu den Videos doch bei vielen Künstlern so schwach war.
    Lord Of The Lost hatten sicher die stärkste Live-Performance des Abends und wurden zu Recht gewählt. Ich denke mal, dass sie auf der im Vergleich zur Studiobühne viel größeren ESC-Bühne noch einiges mehr an Möglichkeiten haben, sich zu entfalten.
    Ikkes Auftritt fand ich ebenfalls nicht schlecht – ich hätte ihn auch ganz gerne in Liverpool gesehen, und sei es nur, um die ESC-Puristen zu ärgern. Er hat es allerdings mit dem Bühnenbild etwas übertrieben, das wirkte irgendwie angestrengt.
    Ansonsten haben live nur noch WIll Church und eingeschränkt auch Anica Russo überzeugt, aber beides sind halt langweilige Radiosongs, die man 30 Sekunden nach dem Hören wieder vergessen hat. Wären sichere 0-Punkte-Garanten.
    Der Schwachpunkt war (wie du auch geschrieben hast) Patty Gurdy. Mir tat sie fast schon leid. Ein total dünnes Stimmchen, das auch noch kaum einen Ton traf. Dabei war sie vorher eine der Favoritinnen. Erklären kann ich mir das nicht, da sie ja angeblich viel live auftritt.
    Zu erwähnen wäre vielleicht noch, dass die „internationale Jury“ praktisch gegenteilig zum Televoting abgestimmt hat. Daher danke an das Publikum für Lord Of The Lost.

    1. Stimmt, das gegensätzliche Abstimmungsverhalten war schon massiv! Die Top 4 der Juroreren waren die letzten vier der Publikumsabstimmung. Bei 8 Acts schon bezeichnend. Dennoch finde ich Jurys in einem Vorentscheid sinnvoll, da es a) beim ESC ja auch so sein wird und b) hier halt eher die musikalische Qualität im Vordergrund steht. Wobei ich mir daher nicht erklären kann, wie René so gut abschneiden konnte. Vielleicht war er in den Durchlaufproben, die ja der Jury präsentiert wurden, besser?

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