Das wochenlange Schweigen hatte vergangenen Donnerstag ein Ende. Deutschland hat seinen Künstler für Rotterdam „gefunden“. Im Vorfeld veröffentlichten der NDR und Eurovision-DE einige kleine Teaser, die uns Lust auf die fulminante Show auf dem Erfolgssender „One“ machen sollten. (Ironie Ende).
Teaser Nummer eins zeigte uns Barbara Schöneberger, die uns in gewohnt humoristischer Manier, singend verkündete, was uns alles erwartete. Leider gab es hier nichts Neues, was der findige ESC-Fan nicht schon längst gewusst hätte. Dann folgte ein Video mit Sky Du Mont, in dem vollmundig verkündet wurde, dass uns „der beste deutsche Beitrag aller Zeiten“ erwarte, gar besser als „Euphoria“ (Der seit eh und je als bester Song des ESCs überhaupt gewählt wird). Beide Versprechen wurden nicht gehalten, was ja auch ehrlich gesagt keiner wirklich erwartet hat, aber warum muss der NDR immer so auf dicke Hose machen?! Das nervt genauso, wie die mantraartigen Aussagen von Herrn Schreiber, Frau Schöneberger und Herrn Urban, die nach absolut jeder Künstler-Veröffentlichung sagen, dass sie ein „gutes Gefühl“ haben und dass der Song modern und international sei. Da Lobe ich mir Michael Schulte, der beispielsweise zum neuen Beitrag sagte, dass dieser kein Song ist der auffallen wird, dass er aber Spaß macht und die Zuschauer mitreißen kann, was zu einer guten Bewertung führen könnte. Das ist ehrlich und zielführend. Jeden Song pauschal in den Himmel zu heben, nur weil der NDR ihn in einer Schublade gefunden hat, nervt einfach nur noch.
NDR vermasselt TV-Sendung
Aber zurück zum deutschen Beitrag. Vergangenen Donnerstag wurde eine Pressekonferenz aufgezeichnet, die abends auf „One“ ausgestrahlt wurde. Das war der erste große Fehler des Tages. Dadurch, dass die Übertragung nicht live war, wurden alle Infos zum Act bereits mittags in die Welt gespült.
Unser Künstler, Benjamin Dolic, war nun also genauso bekannt, wie sein Song „Violent Thing“. Der zweite Fehler des Tages war es dann, diese unsägliche, katastrophale, peinliche und unwürdige Sendung im deutschen Fernsehen zu bringen. „Unser Lied für Rotterdam“ war ein Desaster. Angefangen mit der Sendezeit (donnerstags um 21:30 Uhr), dann die Wahl des Spartensenders „One“, reingequetscht in ein Sendefenster zwischen einem unbekannten Abklatsch des literarischen Quartetts und der 100. Wiederholung von „Little Britain“. Die Quote war entsprechend unterirdisch, was aber ehrlicherweise besser so ist, somit mussten nur wenige diese uninspirierte und schlecht gemacht Sendung sehen. Hier hat der NDR ein Stückweit das mit dem Hintern eingerissen, was sie vorher so gut aufgebaut haben. Denn bis zum Zeitpunkt der Sendung dachte man noch, Deutschland kommt endlich mal ohne Spott und Hohn durch den Tag. Aber der NDR wäre nicht der NDR, wenn er nicht für ungewollte Lacher sorgen würde. Tausendmal besser wäre es gewesen, diese Sendung gänzlich wegzulassen. Dass sie Geld einsparen möchten, um dies in den Act, das Video, das Staging, etc. zu stecken, ist verständlich, aber dann braucht man dieses TV-Unglück auch gar nicht. Dann lieber die Pressekonferenz ohne TV-Übertragung und Zeitgleich eine Veröffentlichung des Videos und der Single. Zur selben Zeit hätten auch alle öffentlich-rechtlichen Radiosender das Lied spielen können. Das hätte mehr Menschen erreicht, wäre ebenfalls günstig gewesen und nicht so peinlich. Außerdem wurde von Herrn Schreiber ein „Gesamtpaket“ angekündigt, das uns in der Sendung erwarten würde. Immerhin habe man alles so lange geheim gehalten, damit man schon frühzeitig und in Ruhe an der Show für Rotterdam arbeiten könne. Somit rechneten alle damit, dass wir einen Auftritt des Künstlers zu Gesicht bekommen, der schon sehr nah am Final-Auftritt orientiert sein wird. Stattdessen bekamen wir eine Akustikversion zu sehen und zu hören, die zwar solide gesungen war, aber nicht mehr ganz so viel mit der Originalversion zu tun hatte. Enttäuschend auf ganzer Linie.
NDR hat vieles richtig gemacht
Aber nun genug gemeckert. Kommen wir zur Liste der Dinge, die durchaus positiv sind. Und ich selbst kann es kaum fassen, aber die Liste ist deutlich länger als die Contra-Seite.
Beginnen wir mit dem Künstler. Benjamin Dolic war 2018 im Finale von The Voice und erreichte dort den zweiten Platz. Natürlich heißt es hier wieder auf Kritiker-Seite: „Schon wieder ein The Voice Kandidat?“, aber findet mal etablierte Künstler_innen, die sich nach all den Niederlagen den ESC „antun“. Die Angst zu scheitern ist viel zu groß. Außerdem müssen unbekanntere Sänger_innen keine schlechte Wahl sein (Vgl. Lena, Roman Lob, Max Mutzke, Michael Schulte, etc.) und bekanntere können ebenso scheitern (Vgl. Cascada und No Angels). Wichtig bei der Künstlerwahl ist erstmal, dass dieser sympathisch ist und er live das hält, was er im Studio verspricht. Das ist mit Ben Dolic auf jeden Fall gelungen. Der Junge Künstler kann singen, ist sympathisch bescheiden und er brennt für den ESC. Seine unsichere Art, die möglicherweise auch mit seinen sprachlichen Problemen einhergeht (der aus Slowenien stammende Künstler lebt erst seit Kurzem in Deutschland), wirkt eher süß und liebenswert, als unangenehm. Benjamin, der in seiner Heimat sowohl beim slowenischen „Supertalent“, als auch beim Vorentscheid zum ESC 2016 das Halbfinale erreichte, ist zwar kein großer Star, aber unerfahren ist er auch nicht. Künstlerich eine sichere Bank. Auch wenn ich persönlich nie so ganz mit seiner sehr hohen Stimme warm wurde, wird der Künstler in Rotterdam sehr sicher auffallen und für Sympathie sorgen und uns vor allem nicht enttäuschen.
Ebenfalls positiv hervorzuheben ist der Song. „Violent Thing“ ist dieses Mal wirklich modern. Der Uptempo-Song ist eine sehr gut produzierte und radiotaugliche Popnummer, der nach all den Balladen der letzten Jahre europaweit für Überraschung sorgte. Klar, es ist auch irgendwie ein 0815-Lied, dass stark an schwedische Beiträge der letzten Jahre erinnert, aber das Lied lädt zum Tanzen ein und macht Spaß. Dies führt uns zum nächsten Punkt, der lobend zu erwähnen ist. Der NDR hat für das Staging in Rotterdam einen Choreographen engagiert, der bereits mit Justin Timberlake gearbeitet hat. Es bleibt zu hoffen, dass sie hier nicht von seiner Zeit beim Mickey Maus Club sprechen. Nein, im Ernst, das könnte ganz groß werden, wenn Benjamin nun auch eine Tanzeinlage mit einem sauberen Gesang kombinieren kann. Und auch wenn dies keine Garantie für eine gute Platzierung ist, ist es trotzdem erfreulich zu sehen, dass das Lied von keinem geringeren als Borislaw Milanow geschrieben wurde. Dieser war schon an neun ESC-Beiträgen beteiligt, von denen sich viele in der Top 10 platzieren konnten.
Endlich klappts mit der Vernetzung
Last but not least: Endlich klappts mit der Vernetzung. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben eine Reichweite, die sich andere Medien nur wünschen können, aber diese wurde nie vom NDR genutzt. Das war dieses Mal anders. Viele Radiosender spielten den Song, sämtliche ARD-Sendungen berichteten von der Künstler-Findung und dies nicht mal eben so nebenbei, die Beiträge waren ausführlich, mit Interviews, Rückblicken auf Vergangene ESC-Jahre, etc. Und sogar die Privatsender luden Ben zu Interviews ein, so war er beispielsweise im Sat1 Frühstücksfernsehen zu sehen. Klar, die Verbindung über The Voice ist da, aber trotzdem erreicht er hier noch einmal ein anderes Publikum, als es sonst immer der Fall war, wenn der Künstler „nur“ bei der NDR Talk Show zu sehen war.
Das alles führte dann auch zu einer sehr guten und positiven Resonanz. Die Single stieg in allen Download-Charts ganz weit oben ein. Platz zwei bei Amazon, drei bei iTunes und über 500.000 Abrufe des Videos auf YouTube krönten den Erfolg. In der Fan-Voting-App kletterte Deutschland auf den dritten Platz, in den Wetten auf Platz sieben.
So viel Erfolg fühlt sich als deutscher ESC Fan ja fast schon komisch an.
Auch wenn der Song sicherlich nicht der beste deutsche Beitrag aller Zeiten ist und mich die Stimme nach wie vor nicht berührt, habe ich ein sehr gutes Gefühl. Dieses Mal wird es sicherlich einige Punkte geben. Selbst wenn es nicht für die Top 10 reichen sollte (wovon ich allerdings ausgehe), mit Ben und „Violent Thing“ blamieren wir uns nicht. Lieber NDR, das hört ihr nur selten von mir, aber: Gut gemacht, weiter so.